Erzählte Zeit – Zeiterfahrung als Narrativ im Musiktheater heute
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Abstract
Narration in aktuellem Musiktheater wurde lang in zwei Modi gedacht: Zum einen als etwas, das Tradition und Linearität in der Erzählstruktur bedient und zum anderen als etwas, das ebendies negiert (anti-Narration). Dass es zwischen diesen beiden Polen alternative Ansätze gibt, zeigt nicht zuletzt die Literatur- und Theaterwissenschaft, ausgehend von den postdramatischen Theorien Hans-Thies Lehmanns. Die Verengung von Narration auf ein Verständnis als Plot oder als Negation von Narration verstellt die Analyse aktueller Musiktheaterproduktionen. Anstatt festzustellen, was nicht gemacht wird oder wie sich etwas von einer Tradition absetzt, muss gefragt werden, was und wie etwas aus dem Wert, aus der Form selbst heraus ,erzählt‘ oder ,erzählt wird‘. Da Musiktheater in seiner basalen Form immer Abfolge von Ereignissen in der Zeit ist, wird ein erweiterter Narrationsbegriff zugrunde gelegt, der sich, in Anlehnung an Paul Ricœur, auf die Vorstellung von Narration als „l’agencement des faits“ (Anordnung der Tatsachen) gründen soll. Narration, als Zusammensetzen von Geschehnissen durch spezifische Verknüpfungen und als genuin zeitliche Struktur verstanden, kann dann als analytisches Werkzeug fungieren, um in scheinbar ‚nicht-narrativen‘ Werken Prinzipien zu finden, nach denen sich Entscheidungen sequenziell strukturieren. Nicht zuletzt kann bereits alles, was der Konstitution des performativen Raumes dient, als Ausgangspunkt narrativer Semioseprozesse verstanden werden (Hans-Thies Lehmann und Erika Fischer-Lichte). Erzählstrukturen können sich damit heute aus den medial und materiell unterschiedlichen Gegebenheiten des Aufführungsraumes (Bild, Text, Licht, Raum), der klanglich und spielerisch offenen Werkstrukturen und ihrer jeweiligen Aufführung heraus ergeben. Der Aufsatz soll auf dieser Basis einen erweiterteren Narrationsbegriff herausbilden, anhand dessen die temporal situativen Ereignisketten zeitgenössischer Musiktheaterwerke der letzten Jahre (beispielsweise Brigitta Muntendorf, Clara Ianotta, Manos Tsangaris, Helmut Lachenmann oder Luigi Nono) nach ihrer Erzählstruktur befragt werden. Ziel ist es, künstlerische Strategien und werkimmanente Strukturen nachzumodellieren, die Zugriffe auf Narrative aktuellen Musiktheaters bieten.